Balša Brković: Der Eros der Rebellion ist unzerstörbar
Der montenegrinische Schriftsteller und Dichter Balša Brković ist der Meinung, dass zu den schlimmsten Errungenschaften der Pandemie die übertriebene Angst gehört, die Menschen der Regel nach in gefühlslose und wilde Wesen verwandelt, aber auch die Tatsache, dass die Pandemie für alle möglichen Arten von Populismus und Dummheit Brennstoff sichergestellt hat. Als eine der beunruhigenden Erfahrungen der Pandemie führt Brković im Interview für SEEcult.org die Medienübermittlung der Wirklichkeit an.
„Die Pandemie hat zu einer ungewöhnlichen Konfrontation mit der naheliegenden Zukunft geführt. Ein deutscher Kunsthistoriker hat das sehr gut formuliert: ´Was uns gestern als unmöglich erschien, scheint heute unabwendbar´. Die Welt wurde in diesen zwei Jahren in bedeutendem Maße verändert. Eine positive Veränderung ist, dass die Montenegriner eine gedämpfte Reaktion während ihrer Begegnung mit Freunden haben. In früheren Zeiten waren Küsse, Umarmungen, eine Art von Straßenringkampf selbstverständlich … Heute werden sie so etwas nicht sehen. Wenigstens ein Vorteil vom Corona-Virus. Was interessant war, war eine Art Kontur einer Dystopie in der Zeit von Sportevents ohne Publikum. Solche Events, wenn sie ausschließlich durch die Medien übermittelt werden, wenn sie keine tatsächlichen Zuschauer haben, stellen den Status der Bezeugung als solcher in Frage. Was geschieht eigentlich und wie geschieht es? Sie müssen dem Medienbild Glauben schenken. Das war eine der beunruhigenden Erfahrungen der pandemischen Realität. Das Beste ist, dass die Loserroutine des verblühten Kapitalismus ins Schwanken gebracht wurde. Die schlimmste Errungenschaft ist die übertriebene Angst, die Menschen der Regel nach in gefühlslose und wilde Wesen verwandelt. Die Pandemie hat auch allen möglichen Arten von Populismus und Dummheit Schwungkraft und Brennstoff gegeben. Antivax-Aktivisten, Internet-Experten und Dilettanten jeder Art sind endlich an die Reihe gekommen. Dummheit erscheint heute intensiver als früher, weil früher gesellschaftliche Mechanismen existierten, die Dummheit halbwegs unsichtbar machten oder sie marginalisierten … Heute ist es nicht so“, sagte Brković.
Der Dichter, der in den 90-er Jahren zu den montenegrinischen Intelektuellen gehörte, die sich den Kriegsaufrufen widersetzten, ist der Meinung, dass kein Land der Region vor der Pandemie eine bedeutendere und nachhaltige Kulturpolitik hatte, die eine soziale Evolution angeregt und die Gesellschaft besser gemacht hätte. Aktuelle Kulturpolitiken halten die Gesellschaft als Geisel des ordinärsten Konservatismus.
„Das Problem ist, dass die Modernisierung unserer Gesellschaften abrupt unterbrochen wurde und in diesem Fall können wir nicht einmal von Kulturpolitiken sprechen. Das sind eher Aktionspläne, nationale Programme, politische Übertrumpfungen. Slowenien und teilweise auch Kroatien sind dank europäischer Erfahrungen weitergekommen als der Rest der Region. Das sollte aber niemanden frustrieren, das ist der Grund, sich an anderer Stelle zu beeilen und einen rechtschaffenen Modus für eine Veränderung der Kulturpolitk zu finden. Schauen sie Montenegro an – wir hatten zuerst ein höfisch-kommissarisches Kulturkonzept, in dem nationale Kommissare einschätzten, ob sie für oder gegen Montenegro sind, auch wenn es sich eigentlich um eine Partei handelte und nicht um Montenegro. Dann kamen die national-kirchlichen Kommissare – wieder wird Rechtgläubigkeit gemessen und andere werden diskriminiert. Diese Spirale der Banalität muss unterbrochen werden. Wenn das geschieht, wird es sich um eine wahrhaftige Festlichkeit der Kultur handeln …“, meint Brković, der unter anderem auch Autor des ausgezeichneten Romans „Paranoia in Podgorica“ ist.
Die Pandemie hat seiner Meinung nach auch darauf hingewiesen, dass den Mangel an Theatervorführungen, Ausstellungen, Leseabenden … die Behörden in Montenegro und auch in der Region als am wenigsten problematisch sehen.
„Die würden das alles auch ohne Corona sehr gerne auf ein Minimum beschränken. Es geht um das Wesentliche – fehlt das alles überhaupt jemandem? Haben die Bürger eine Art um klar mitzuteilen, dass es ihnen fehlt, dass das alles unentbehrlich ist? Vielen fehlt das alles natürlich, aber viele haben sich dem scheinbaren Diktat der höheren Macht unterworfen. Das geht ganz besonders leicht, wenn das Opfer die Kultur ist. Die Behörden sind nirgendwo von Künstlern abhängig, deswegen sehen sie in solchen Zeiten über sie hinweg. Ich hatte in den letzten zwei Jahren oft das Gefühl, dass den Behörden ein Stein vom Herzen gefallen ist, dass ein ganzes gesellschaftliches Segment verschwunden ist“, sagte Brković.
Brković meint, dass man die gesamte Geschichte der Region als einen Versuch der Herstellung einer essentiellen Schriftlichkeit unter Völkern schreiben könnte, die Mündlichkeit über alles stellen.
„Solange Kriegsverbrecher bejubelt werden, solange die Lüge die populärste Fahne ist, wird es so sein – wird die rohe Mündlichkeit dominieren. Das, was sich in der Mündlichkeit befindet, gehört gar nicht zur Geschichte – das sind trübe Limbi eines parahistorischen Bewusstseins. Aber unsere Leute fühlen sich darin wie Fische im Wasser. Anstatt Debatten und Dialoge zu führen, entscheiden sich die Menschen hier viel leichter, ein Dress anzuziehen. Dann ist alles so, wie es sein soll. Wenn Sie aber ein Dress anziehen, gehören Sie nicht mehr sich selbst. Das ist das Wesentliche“, führte Brković an, der gerade seinen Roman „Aurora“ beendet hat, dessen Handlung sich in Podgorica im Jahr 1932 abspielt. Es ist eine Geschichte von Visionären, starken Frauen und Schachspielern …
*Das ganze Interview (in serbischer Sprache) ist auf diesem Link zugänglich
*Photo: Vesko Belojević
(SEEcult.org)
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